Prof. Dr. Eva Borst Gedanken zur Ausstellung in Kaiserslautern 2023

 

Sehr geehrte Gäste, 

ich begrüße Sie ganz herzlich zur Eröffnung von Annette Webers Ausstellung hier in den Lebensräumen Tromsdorf. Ein auf den ersten Blick ungewöhnlicher Ort für eine Kunstausstellung, an dem sich aber das moderne Leben mit der Kunst Annette Webers auf eine unvergleichliche Art verbindet.

feuern – wässern – lüften – erden

Das Motto weist den Weg. 

So sehr es zunächst auch an alltägliche Verrichtungen erinnern mag, ist es doch eingerückt in die lange Tradition der Vier-Elemente-Lehre, die weit zurück geht auf die antike Philosophie der alten Griechen um die Zeit von vor rund 2.700 Jahren und mit Thales von Milet vermutlich ihren Anfang nahm. Interessanter aber noch ist die Tatsache, dass Hildegard von Bingen, sie lebte von 1098 – 1179, dass sich also Hildegard von Bingen sehr eng an die Vier-Elemente-Lehre anlehnte. So schreibt sie, ich zitiere:

„Im Menschen sind Feuer, Luft, Wasser und Erde, und aus ihnen besteht er. Vom Feuer hat er die Wärme, von der Luft den Atem, vom Wasser das Blut und von der Erde den Körper. Dem Feuer verdankt er das Sehen, der Luft das Hören, dem Wasser die Bewegung und der Erde seinen Gang.“ (Zitatende)

Für Hildegard verkörperte der Mensch in seiner Alleinheit die Synthese von Feuer, Luft, Wasser und Erde. Er besteht aus ihnen. Sie ermöglichen es, dass der Mensch existieren kann. Und so könnte man kurz gesagt davon reden, dass es hier, in dieser Ausstellung um das Leben geht. Das befeuert – bewässert – belüftet und geerdet werden soll.

Ohne Ihren Interpretationsmöglichkeiten der Werke allzu sehr voraus greifen zu wollen, möchte ich behaupten, dass es in Annette Webers Werken immer um das Leben in seinen Höhen, aber auch Tiefen geht. In all seinen Facetten und Ausprägungen. 

Es gibt aber noch ein weiteres Motiv, auf der Vorderseite der Einladung zu finden: frei. Mit einem imaginären Fragezeichen versehen, steht es auf dem Kopf und gibt Rätsel auf. 

Was auf dem Kopf steht, sieht die Welt andersherum. Insofern können frei sein nur diejenigen, die den Mut haben, sich auf den Kopf zu stellen, um ihre Sicht auf die Welt zu erweitern, die Perspektive zu wechseln und sich zu fragen, ob all das, was so offensichtlich zu sein scheint, womöglich im Hintergrund ganz anders zu uns spricht. 

Annette Webers Kunstwerke sind in dieser Weise herausfordernd, denn der erste Blick kann täuschen. Jeder Botschaft ist eine andere unterlegt und dieser vielleicht auch noch eine weitere. Dies ist das Bemerkenswerteste an Annette Webers Kunstwerken.

Mit Freude begegnet man ihnen, wie etwa den lustigen Fröschen. Sie machen Spaß, erheitern und doch steckt hinter ihnen ganz unsichtbar eine lange Geschichte, die im alten Ägypten beginnt. 

Es ist außerordentlich reizvoll, Annette von Droste-Hülshoff mit ihren Puffärmeln zu begegnen und doch steckt hinter diesen Porträts das Studium einer Biografie wie sie nicht facettenreicher und gebrochener sein kann. 

Da gibt es die charismatische Paula von Modersohn-Becker, die ihren schwangeren Bauch hält, und doch steht hinter dieser Figur eine uralte kunstgeschichtliche Frage, die zu beantworten eines anderen als des direkten Blickes bedarf. 

Oder wenden wir uns dem Gemälde von Mathilde Vollmoeller-Purrmann zu. Eine Frau als Künstlerin, die zu ihren Lebzeiten auf ihre Kunst zugunsten des Ehemanns verzichtete.

Betrachten wir das Schloss Montfort in Langenargen am wild bewegten Bodensee, und doch verbirgt sich dahinter mehr als nur das Porträt eines Schlosses. 

Annette Weber ist in vielen Bereichen des künstlerischen Ausdrucks zu Hause: Malerei, Plastik, Videokunst und Zeichnung wechseln sich ab und zeigen eine große Vielfalt. Eines vereint aber all diese unterschiedlichen Genres: Die Verbindung von Erfahrung, Historischem und künstlerischem Ausdruck. Annette Weber gräbt tief in der Geschichte, deckt auf und bringt Verdrängtes, Ungesagtes und Unsichtbares ans Licht. Sie verleiht den Mathildes, den Paulas, den Annettes ein würdevolles Gesicht, das im Dialog steht mit den Texten von Mascha Kaleko, Gertrud Kolmar, Rose Ausländer u.v.a.m. Ihre Löwen, die Esel, der Elefant, die Frösche sind alles andere als bloße Abbildungen einer spezifischen Spezies. Es sind Symbole für das Leben, dessen Seiten dunkel und hell zugleich sein können, wo Täter und Opfer sich begegnen, wo auch Versöhnung als Möglichkeit aufscheint. 

Die Verschmelzung von Poetik und Malerei, von Text und Skulptur sind das Ergebnis einer langen, inspirierenden Tour d’Horizont durch die gelebte Geschichte unseres Jahrhunderts und der Jahrhunderte davor mit der Sehnsucht nach Frieden und Freiheit. Und weil es um diese beiden zutiefst humanistischen Positionen in Annette Webers Kunst geht, ist sie niemals nur anklagend, sondern immer auch positiv gestimmt in der Aussicht auf ein Leben, das kraftvoll feuert, wässert, lüftet, erdet. Und das verkehrt herum vielleicht besser zu ertragen ist.  

Ich wünsche Ihnen einen aufregenden und beflügelnden Rundgang durch die Ausstellung.

Katrin Selitz 2023

 

 

frei

gehen wir auf den Steg hinaus Richtung Berge, entfernen uns vom Land, bewegen uns ins Offene. Rechts und links Wasser, hinter uns Langenargen mit Häusern und Cafés und Hotels, vor uns die Berge, nebeneinander, hintereinander, unterschiedlich geformt. Sie gefallen uns, erfreuen uns, ihr Anblick macht uns 

frei

weil sich in ihnen eine Gestaltungskraft offenbart, die auch in uns wirksam ist. 

Wir sind ein Teil von ihr, Teil der Natur, Teil der Erde. Wir können uns von hier nach da bewegen, vom Anfang des Stegs bis zum Ende – und darüber hinaus: mit einem Schiff oder einem Segelboot

frei

fühlen wir uns, wenn der Wind unsere Segel füllt und das Boot über den See saust, unfrei, wenn er uns bei der nächsten Flaute hängen lässt. Der Wind ist ein himmlisches Kind und verwandt mit dem Geist Gottes, der, so wird gesagt, am Anfang der Schöpfungsgeschichte über dem Wasser schwebte

frei

war man früher in der Familie, in der Gesellschaft vertrauter Menschen, während 

man am Hof höflich sein musste. Zuhause konnte man reden, wie einem der Schnabel gewachsen war, am Hof nicht. Heute verstehen viele unter Freiheit, zu gehen, wann und wohin man will

frei

zu sein wurde zu einem Menschenrecht und 1776 zum ersten Mal in der Unabhängigkeitserklärung von Amerika formuliert. Die Unabhängigkeit musste erkämpft werden, denn die Briten wollten zwar weiter Steuern kassieren, aber keine Mitbestimmung zulassen. Der Krieg dauerte sieben Jahre

frei 

waren jedoch nur weiße Männer. Die Menschenrechte galten nicht für 

Frauen, Sklaven und freie Schwarze. Die Delegierten, die aus den dreizehn Staaten von Amerika zusammengekommen waren, unterzeichneten die Erklärung erst, nachdem die Verurteilung der Sklaverei gestrichen worden war

frei

wollten 1789 auch die Bürger Frankreichs sein, frei von der Herrschaft der Bourbonen, die auf Kosten der einfachen Leute Hof hielten und Politik machten. Die Freiheit führt das Volk nannte Delacroix sein Bild, das zum Inbegriff von Revolutionen wurde. Er hat es aber erst 1830 gemalt, nach den Aufständen gegen Charles X

frei

Ist die Brust der Liberté. Sie trägt eine rote Jakobinermütze und schaut anfeuernd zurück, in der einen Hand die Trikolore, in der anderen die Flinte. Neben ihr läuft ein Junge mit Baskenmütze und einer Tasche, die wie eine Kindergartentasche aussieht, aber mit Pulver gefüllt ist, für die Pistolen, die er in jeder Hand hält

frei

sein wollen viele. Die Französische Revolution wird von den Armen bewundert 

und von den Mächtigen gefürchtet. Die Hoffnung auf Freiheit ist ansteckend für alle, die klein gehalten werden. Sie nimmt immer wieder neue Formen an und taucht an einem anderen Ort auf

frei

sein – wie geht das? Darüber wurde zu allen Zeiten nachgedacht. Wie ist Freiheit zu denken, wenn es einen allwissenden Gott gibt? Das hat sich Schelling 1809 gefragt. Es muss etwas im Menschen geben, was seinem Zugriff entzogen ist, sonst würde es wahre Freiheit nicht geben. Wir sind frei, das Gute zu tun, aber auch das Böse

frei

Priv.-Doz. Dr. Ralf Michael Fischer
Zwischen künstlerischer Selbstentfaltung und Familienpflicht – Mathilde Vollmoeller/Mathilde Vollmoeller-Purrmann 

 

 

Zu diesem Aspekt schuf die Langenargener Künstlerin Annette Weber anlässlich der Aus­stellung »Im Dialog mit Hans Purrmann« im Museum Langenargen eine ganze Serie von Bildern, in denen sie sich kritisch mit Vollmoeller-Purr­manns Rückzug aus dem öffentlichen Kunstleben auseinandersetzte.35 Grundlegend war auch hier jene Frage, welche die Beschäftigung mit der Künstlerin wie ein Leitmotiv prägt: Inwiefern war Mathilde Vollmoel­ler-Purrmann eine Unterdrückte, ein Opfer, das von einer patriarchalen Gesellschaft an der Selbstverwirklichung gehindert wurde? 

Tatsächlich folgte die Künstlerin schluss­endlich gesellschaftlichen Konventionen, in­dem sie ihrem Ehemann den Rücken freihielt, damit er sich künstlerisch frei entfalten konnte – dieses Muster war in Beziehungen zwischen Künstlerinnen und Künstlern damals üblich und wirkt selbst heute noch nach (vgl. S. 170). Annette Weber griff dieses Problem 2019 in ih­rer Pastellzeichnung Porträt Vollmoeller auf, in der sie Sabine Lepsius‘ Bildnis von 1900 mit subtilen Mitteln neu interpretiert (S. 148, 151). Dass hier die Künstlerin im Zentrum steht, die sich un­abhängig von Hans Purrmann entwickelt hat, signalisiert die bewusste Wahl ihres Geburtsna­mens.36 Im Gegensatz zum Vorbild ist die Prä­senz der Porträtierten einfühlsam ins Skizzen­hafte zurückgenommen – sie scheint nur noch ein Schatten ihrer selbst zu sein oder ist vielleicht sogar im Verschwinden begriffen. Letztlich will Annette Weber zur Anschauung bringen, dass die Künstlerin Vollmoeller buchstäblich von der Bildfläche der Kunstwelt und der Kunstgeschichte verschwunden ist, während die Werke Hans Purrmanns beliebte Sam­melobjekte sind und in unzähligen Studien diskutiert wurden.

 

Montfort Bote 02.06.2023

Mit Annette Weber im Kunstmuseum 

 

 

Mit dem Kunstmuse­um Langenargen verbinden viele na­türlich einen großen Namen: Hans Purr­mann. Dass in Lan­genargen drei zeitge­nössische Künst­lerinnen leben, die mit ihren Werken großartige Beiträge zum künstlerischen Diskurs leisten, war 

lange Zeit in der Öf­fentlichkeit nicht so präsent, wie Dietlinde Stengelin, Inge Kracht und Annette Weber mit ihren Arbeiten verdienen.

Seit Kurator Ralf Mi­chael Fischer die Ausstellungen konzipiert, sieht das anders aus. Annette Weber nimmt sich Zeit und zeigt dem Montfort-Boten, wo sich ihre eigenen Werke in der aktuellen Schau wiederfinden – als Atelierbesuch in anderer Form sozusagen.

Wer zeigt die andere Seite der Annette von Droste-Hülshoff? 

Wir beginnen bei Annette von Droste-Hülshoff. Deren Porträt hängt im Erdgeschoss im Flur in einer Reihe mit Ansichten his­torischer Persönlichkeiten, die in Verbindung zu Langenargen stehen. Schon der Kontrast zu der Bildsprache der historischen Porträts ist bemerkenswert. ,,Versäume ja LA nicht“, hat An­nette Weber das Konterfei von Droste-Hülshoff genannt. Es ist ein helles und verspieltes Bild, das mit Collagetechniken arbei­tet und oberflächlich betrachtet eine heitere Seite der Dichterin zeigt. Die aktuelle dreiteilige Ausstellung im Haus leuchtet auch das Thema Porträt aus und zeigt seine vielen Facetten. Insofern bietet sich „Versäume ja LA nicht“ geradezu an, denn wir sehen Droste-Hülshoff hier nicht nur als romantisierte Dichterin und als idealtypische Frau. Annette Weber stellt dieses Bild in Frage und greift zugleich das Morbide im so oft wegen seiner Schönheit ge­lobten Langenargen auf. 

Nicht alles ist immer schön 

Vieles in Annette Webers Werk dreht sich um das Sichtbarmachen: 

Verborgenes zeigen, Schichten abtragen, Idyllen und Stereotype brechen – das kennzeichnet ihre Arbeiten. In dem kleinen Raum links von der Treppe im Erdgeschoss hat Kurator Ralf Michael Fischer anlässlich der 1250-Jahr-Feier das „Bilderbuch Langen­argen“ aufgeschlagen. Hier sind vier weitere Arbeiten von Annette Weber zu finden. ,,Volldampf“ war vor drei Jahren im Kunstpark zu sehen. Es zeigt ein Kreuzfahrtschiff vor der Silhouette Langen­argens und erinnert an die brutalen Ansichten von gigantomani­schen Kreuzfahrtschiffen aus der Bucht von Venedig. Dass sie von Ausstellungsbesuchern dafür gelobt wird, auch die kritischen Seiten des touristisch stark frequentierten Langenargener Idylls zu zeigen, wundert Annette Weber fast ein bisschen, wie sie er­zählt. Dass sie so selbstbewusst auf das Unbequeme zeigt, war nicht immer so. ,,Ursprünglich wollte ich die Menschen glücklich machen mit meiner Kunst, habe die schönen Ansichten bevor­zugt“, erzählt die Künstlerin. 

 

In „Schlossfritz“ greift Weber die Geschichte von Friedrich von Leube auf, dem behinderten Sohn der Familie von Leube, die einst Schloss Montfort besaß. ,,Home sweet home“ und „Wogen geglättet und im Sünde verlaufen“ beschäftigen sich mit der Zeit der Nationalismus im Langenargen. „Dammhausle“ ist eine Studie zu der Auftragsarbeit, mit der Annette Weber die Verhül­lung des Dammhäusles am Landungssteg während der Reno­vierung bemalt hatte. 

Den nächsten Halt erreichen wir im ersten Stock bei der Bank im Flur – ihr Lieblingsplatz im Museum, er­zählt Annette Weber. Hier hängt am Treppenaufgang Wolfgang Hennings Napo­leonporträt „Der Herr mit dem besonderen Hut hatte ganz vergessen, dass er schon seit 200 Jahren nicht mehr unter den Le­benden ist“. Wolfgang Henning bestreitet einen weiteren Ausstellungsteil in diesem Jahr. Weber hat Hennings Bild als Vorlage für eine handtellergroße keramische Kleinskulptur genommen, die sie nun auspackt und zeigt. Annette Weber ist auch in Medium Plastik zu Hause und wird in diesem Sommer wieder einen Keramikworkshop im Kunstmuseum anbieten. Wolfgang Hennings „Jagdge­sellschaften“ und die „Querulantenversammlungen“ im Aufgang zum zweiten Stockwerk findet Annette Weber sehr anregend und hervorragend geeignet, um sich skulptural damit auseinanderzu­setzen. Eine zweite Weber-Plastik hat Kurator Fischer übrigens ganz oben platziert: ,,Warten“ ist eine Tonskizze nach Jan Balets 

„Warten auf die ,Langenargen“‚. 

Und noch ein Medium bespielt Annette Weber – eine Arbeit zur Videokunst gibt es im zweiten Stockwerk zu sehen. Auf einem Tablet läuft in Endlosschleife eine Videorecherche, die die Künstlerin bereits 1998 begonnen hat. Ihrem Gegenüber stellt sie eine Frage – die hier nicht verraten wird – und die spontanen Antworten zeichnet Weber auf, schneidet sie und bringt sie wieder zusammen. Gesprochen hat sie mit vielen Menschen an den un­terschiedlichsten Orten, im Kunstmuseum trifft man auf Gesich­ter, die im weitesten Sinne etwas mit Langenargen zu tun haben. Bleibt die Frage nach ihrem Lieblingsbild in der aktuellen Schau – es ist Hennings Napoleonporträt. ,,Das Bild hat intellektuell was drauf und es transportiert zugleich eine kindliche Ebene, was ich eben auch versuche“, sagt Annette Weber. 

ela

Ralf Michael Fischer (Hg.), “Im Dialog mit Hans Purrmann Kunst der Moderne und Gegenwart in Langenargen”, Museum Langenargen, ISBN 978-3-00-068412-8

 

Annette Weber (geb. 1957) ist in verschiedenen Medien wie Malerei, Zeichnung, Plastik und auch Videokunst zuhause. Im Vorfeld dieser Ausstellung hat sie sich in einen indirekten kritischen Dialog mit Hans Purrmann begeben, indem sie in einer ganzen Bilderserie nach den Lebensbedingungen von Mathilde Vollmoeller-Purr­mann als Künstlerin und Künstlergattin fragt. Ohne die Unterstützung seiner Frau und die Beendigung ihrer Karriere hätte sich Purrmann nämlich schwerlich so intensiv auf seine Kunst konzentrieren können. Weber fertigte Portrait Vollmoeller 2019 (Abb. 38) nach einem markanten Ölporträt an, das deren erste Lehrerin Sabine Lepsius (1864-1942) um 1900 von der Mittzwanzigerin anfertigte.83 Der skizzenhafte Stil der Zeichnung thematisiert Mat­hilde Vollmoeller-Purrmanns Gesicht vor dem „Fast­Verschwinden“84 und reflektiert dergestalt ihre durch gesellschaftliche Konventionen bedingte Verdrängung aus der Kunstgeschichte im Schatten ihres Ehemanns. Innerhalb der Ausstellung ist auch eine umgekehrte Wahrnehmung möglich, denn inmitten ihrer Aquarelle scheint ihr Gesicht wieder Gestalt anzuneh­men. Auf jeden Fall würdigt Annette Weber das Talent, aber auch das große Opfer von Purrmanns Ehefrau und sie verleiht ihr mitsamt ihrem Schicksal verstärkte Sichtbarkeit. Der gezeichnete Rahmen um Vollmoeller-Purrmanns Kopf ist nicht nur als Anpassung des Bildformats gedacht, sondern er soll ihre ‚Gefangenschaft‘ in gesellschaftlichen Bedingtheiten visualisieren, die sie an einer freien Entfaltung ihrer künstlerischen Begabung gehindert hat.85

Die Praxis einer interpretierenden Aneignung des Bildmaterials an­derer prägt auch weitere Bilder aus Webers Serie. Sehnsucht nach dem Anderen, ebenfalls von 2019 (Abb. 39), formu­liert das Detail einer Fotografie um, die als Umschlagmotiv der gleichnamigen Publikation der frühen Korrespon­denz mit Hans Purrmann fungiert und Vollmoeller-Purrmann während der Hochzeitsreise 1912 in Ajaccio zeigt.86 Indem Weber ein schmales Hochformat der stehen­den Mathilde Vollmoeller-Purrmann herauslöst und nach oben wenig Luft lässt, betont sie auch hier ein Gefühl der Beengung. Wie Stengelin arbeitet Weber mit Schichtungen, die sie in einem skiz­zenartigen Stil verdichtet. Dabei reichert sie das Motiv subversiv an, indem sie in bzw. hinter dem Rock Vollmoeller-Purrmanns eine Landschaft mit Schloss Montfort platziert, die man aber nur erkennt, wenn man den Kopf um 90° nach links neigt. Im Entstehungskontext von Webers Serie erfährt der Titel in der Tat eine Umdeutung: Im Gegensatz zur Briefedition scheint nicht die Sehnsucht der Liebenden nach ihrem Geliebten auf, sondern die Sehnsucht der Künstlerin nach dem, worauf sie als Ehefrau verzichten muss.

Auch Algenschloss entstand 2019 (Abb. 41). Das Gemälde präsen­tiert zwar einen Blick auf Schloss Montfort, wie wir ihn speziell von Hans Purrmann kennen, doch der dominante giftgrüne Farbton sticht zu intensiv ins Auge, um eine ähnlich idyllische Wirkung zu entfalten. In diesem Bild greift Annette Weber hintersin­nig ein aktuelles Problem auf, das nicht zuletzt auf die Klimaerwärmung zu­rückzuführen ist: die Ge­fahr eines enthemmten Algenwuchses am Boden­see, wie er in Langenargen tatsächlich bereits aufge­treten ist – es handelt sich um ein Freilichtbild, das die Künstlerin bei ihrer Woh­nung „am stinkend in der Sommersonne brodeln­de[n] grünen Algen-Strand“ schuf.87 Mit diesem Thema führt Weber mit Nachdruck vor Augen, dass die Um­welt aus dem Gleichge­wicht geraten ist. Die grüne Farbe wirkt wie ein Schleier, der zwischen uns und der eigentlich schönen Szenerie aufsteigt und evo­ziert mit visuellen Mitteln den Gestank, der solche ‚Algeninvasionen‘ zu begleiten pflegt. Es herrscht buchstäblich ‚dicke Luft‘, zugleich aber auch eine farbliche Stimmigkeit, die nicht zu aggressiv, sondern eher ausdrucksstark-zwiespältig daherkommt. Eine solche Ambivalenz ist dem Thema angemessen, denn Annette Weber verbindet Ästhetik und kritisches inhaltliches Anliegen, um einer bitteren Ironie Ausdruck zu verleihen: Die mediterrane Bodenseeatmosphäre, die Purrmann zum Ausgangspunkt seiner idyllischen Bildschöpfungen machte, gründet in den gleichen Bedingungen wie die optisch-olfaktorische (Zer-) Störung der Szenerie, nämlich in Hitze und viel Licht! Die Doppeldeutigkeit von Algenschloss setzt sich im Wortspiel des Titels fort, der unzweideutig auf die Bezeichnung

Prof. Dr. Eva Borst „walking ideas“, 1. Juni 2019

 

Liebe Annette,

es ist nicht ganz einfach, diese Einführung in Dein 40jähriges Wirken zu bewerkstelligen, nicht nur, weil Du in diesen 40 Jahren eine Fülle an Kunstwerken geschaffen hast. Sondern auch, weil Du Dich immer wieder denkend, fühlend, nach Ausdruck suchend auf sehr unterschiedliche Wege begeben hast: Walking Ideas – 40 Years
Gewissermaßen obsessiv suchtest Du nach neuen Formen, die, bei näherer Betrachtung durch ein unsichtbares Band irgendwie zusammengehalten werden. Nun, wenn ich das in aller Kürze aufzählen darf: Du hast Brunnen gebaut, überlebensgroße Skulpturen geschaffen, hast Dich auf das Abenteuer der Videokunst eingelassen, Malerei sowieso und, unter anderem, um Dir das unabhängige Leben einer freischaffenden Künstlerin zu finanzieren, kleine feine Statuetten aus Ton geformt. Nebenbei, das darf nicht fehlen, hast Du Dich an der vergänglichen Kunst der Performance beteiligt. Die Genres, in denen Du tätig bist, sind hiermit erst einmal abgehandelt. Aber was wäre die Form ohne Inhalt?

Es war mir bei der Vorbereitung zu diesem Vortrag ein außerordentliches Vergnügen festzustelle, dass, bei allem Humor, der vielen Deinen Kunstwerken zu eigen ist, sozusagen hintergründig – also hintendran – unausgesprochen etwas mitläuft, das man als Alterität bezeichnen kann. Das Andere! Das Andere als Möglichkeit! Oder genauer noch: das Andere als eine Kritik an der kulturellen Tradition, die auch hätte anders verlaufen können, hätten die Menschen es nur zugelassen. Du bist also im wahrsten Sinne des Wortes Perspektivwechslerin und Grenzgängerin in einem: non-konformistisch – immer, herausfordernd – dauerhaft, anarchisch – manchmal, dabei aber stets risikobereit, weil Du zwar mit Deiner Kunst Freude bereiten willst, andererseits aber höchst provokativ die Ordnung, das Selbstverständliche in Frage stellst.

Und damit sind wir beim Inhalt. Der kommt zunächst einmal ziemlich unaufgeregt daher. Aber: er sprengt Fesseln, kraftvoll, energiegeladen, verschafft sich Raum, stellt sich anders dar als erwartet und bleibt doch immer auch poetisch, berührend.

Ich möchte das an einem Beispiel demonstrieren, das Deine inhaltliche Arbeitsweise, wie ich meine, wunderbar zu illustrieren vermag. Und das sehr anschaulich zeigt, dass Deine Kunst durchaus keine Spielerei ist. Mit großer Ernsthaftigkeit und Entschiedenheit nämlich prüfst Du beispielhaft die religiösen Symbole der christlichen Kirche bis zur letzten Konsequenz auf ihre Legitimität, ohne freilich das sakrale Versprechen – die Spiritualität – zu denunzieren. Du wendest Dich nicht ab, sondern du bringst verborgene Dimensionen zum Vorschein. So etwa, wenn Du Dich auf die steinzeitlichen, weiblichen Figurinen beziehst, die für den Anfang des Lebens stehen, heutigen Tags aber – wenn überhaupt – nur noch seelenlos in den Vitrinen der Museen ein trauriges Dasein fristen. Und wenn Du die Linie unmittelbar fortsetzt zu Eva und weiter zu Maria und Maria Magdalena, in der Überlieferung zur Sünderin stigmatisiert.
Du hast Dich in die Räumlichkeiten der Heiligkeit begeben und hast, wie es so Deine humorvolle Art ist, erst einmal eine rote Funzel über dem Eingang der Kirche aufgehängt und damit den Gläubigen schon mal klar gemacht, dass es hier zwei Seiten gibt, wenn sie den Ort betreten: Madonna oder Hure? In den sakralen Gebäuden des Patriarchats, als Peep-Show inszeniert, die große Heuchelei, heute aktuell im geradezu monströsen Ausmaß des sexuellen Missbrauchs. Das ist schon lange her, 1995, aber Deine Figur „Not for Sale“ knüpft an diese Serie an und thematisiert die Flucht der Kinder vor Krieg direkt in die Arme ihrer Vergewaltiger.

Nun, Du hast Dich dem Lebendigen verschrieben und stellst ganz ungeniert die Frage nach seinem Wert in dieser Kultur. Indem Du den Zeitstrahl bis weit nach hinten und weit nach vorne ausdehnst, Geschichte und Geschichten, alte Mythologien und Alltagsmythen ausgräbst und ihnen Gestalt verleihst, machst Du auf einen Verlust aufmerksam, der uns alle betrifft. Deine Kunst der zerbrechenden Tradierungen – so möchte ich sie mal nennen – ist in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit ausgesprochen klar. Zum Beispiel Deine Madonnen Figuren.

Sie symbolisieren nicht die Unbeflecktheit einer Heiligen, sondern ganz im Gegenteil den Ursprung eines lustvollen Lebens. Luce Irigaray, die Philosophin aus Frankreich, hat mit ihrem sprachlichen Speculum die Einkerkerung der Weiblichkeit ausgeleuchtet: Weibliche Sexualität und Mutterschaft sind demnach unvereinbar in dieser Welt des väterlichen Logos, der die Erinnerung an das, was mal war, ausgelöscht hat. Verstörend deshalb der Blick in das Innere der „Video ma Donna“. Es sind die Hände einer Hure, die sich da bewegen: Galanterie und Verachtung, ausgedrückt in einer einzigen Figur.

Deine Plastiken indes deuten zurück auf die steinzeitlichen Mutteridole und auf die kleinen Figurinen aus den Jahren Deines Studiums. Zugleich aber weisen sie voraus, etwa auf „Paula“. Paula Modersohn-Becker, die es als erste Künstlerin 1907 gewagt hat, sich nackt und schwanger darzustellen, selbstbewusst und voller Schöpferkraft. Sie
störte mit ihrem expressionistischen Tafelbild, wie auch Du heute mit Deinen Tonskulpturen, das Einverständnis in die kulturelle Hegemonie. Die „Steinzeugin Nr. 3“ (es gibt insgesamt vier davon): überlebensgroß steht sie stumm und blind im Garten, bewegungslos bezeugt sie die uralte Unterdrückung und ist doch ausgestattet mit einer Kraft, die Befreiung verheißt. Den väterlichen Logos, das körperlose Wort der Bibel, bringst du so zum Verblassen.
Dass Du Dich als Künstlerin nicht dem Diktat der kleinen Form beugst, sondern große, schwere, auf Dauer hin angelegte Kunstwerke schaffst, zeigt sich auch im Brunnenbau. Das Wasser, die Wassertiere, die Wasserfrau, der Wasserelefant, das Wasserschloss, alles Hinweise auf die Herkunft der Tiere und der Menschen aus dem Wasser. Du gehst also noch einen Schritt weiter zurück in die Vergangenheit, an den Ursprung allen Seins und holst diesen Uranfang in das Bewusstsein zurück. Aber Du wärest nicht Du, wenn Du nicht auch hier wieder dem Strom des Wassers über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart hinein folgen würdest. Spurensuche betreibst Du in den Tiefen der Archive, die nicht nur über untergründige Wasseradern Auskunft geben, an denen Du die Brunnen ausrichtest, sondern auch von verborgenen Geschichten erzählen. Eingebrannt in Majolikafliesen sind sie unwiderruflich auf den Plätzen Deiner Brunnen präsent, Orte der Kommunikation und des Austauschs darüber, was einmal war. Budenheim, Essenheim, Kressbronn….

Alle diese Brunnen entstanden im Kollektiv. Albrecht hat die beschwerliche Arbeit der Bauplanung auf sich genommen, Schulkinder und auch Deine eigenen Kinder haben sich an der Gestaltung der Fliesen beteiligt und Du hast allem den künstlerischen Rahmen verliehen. Kinder haben Dich immer wieder beim Schaffen Deiner Kunstwerke begleitet, haben von Dir gelernt, um ihren eigenen Ausdruck zu finden.

Der Frosch, das Wassertier. In Deinem Garten in Langenargen am Bodensee lebt eine Vielzahl dieser Spezies, liebevoll gepflegt und aufmerksam beobachtet. Aber wer hätte je gedacht, dass den alten Ägyptern die Frösche heilig waren, wie überhaupt verschiedenen anderen Kulturen auch? Wer hätte je gedacht, dass Deine kugelrunden Froschskulpturen kurz vor dem Sprung stehen? Energiespeicher! Und wer hätte je gedacht, dass der Froschsprung nach den Gesetzen der Schwerkraft gar nicht möglich ist? Aber dennoch geschieht er hundertfach! Nur der Frosch weiß, wie es geht! Das Wunder des Froschs: er steht für Heilung und Heiligung, es steht für Ruhe und Energie genauso wie er Symbol der Wiederauferstehung ist. Schließlich kann er, einmal tiefgefroren wie tot, wieder zum Leben zurückkehren. Abstrahiert, reduziert auf eine Kugel, stellt er kulturhistorisch die vollkommene Form dar.

Der Frosch kommt in vielen archaischen Religionen vor. Aber wer hätte je gedacht, dass er auch im Christentum eine Rolle spielt? Mit dem Kreuz Christi auf dem Rücken?

Was Du in Deiner Kunst zusammenbringst, ist für gewöhnlich getrennt, abgespalten, diffamiert, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Du bist im besten Sinne Aufklärerin, die sich dem Leben verpflichtet fühlt, aber die Darstellung der Gewalt nicht fürchtet. Die Madonnen, die Huren, die Steinzeugen, die gequälte Kreatur scheinen auf den ersten Blick so gar nichts mit den Fröschen zu tun zu haben. Aber der zweite Blick verrät dann doch, dass Du die Gefahr kennst, ihr
aber trotzt, weil Du in den unendlichen Stunden des Literaturstudiums, der körperlich anstrengenden Arbeit mit Ton und der Auseinandersetzung mit Deinen eigenen kreativen Fähigkeiten Deine Artefakte zum Sprechen bringst. Der Frosch zum Beispiel, eine Amphibie, lange Zeit verachtet, gewinnt seine geheiligte Seele zurück, der Hure verleihst Du Würde, die Madonna befreist von ihrer unkörperlichen Mutterschaft und mit der stolzen Steinzeugin zeigst Du auf eine Geschichte, die so nicht mehr stattfinden darf. Und den Hitler würdest Du am liebsten auf den Mond schießen. Vielleicht kann es der Papst ja richten, wenn er mitfliegt.

Und nun bin ich zum Schluss bei einem Thema angelangt, das Dich schon lange bewegt. Eigentlich schon seit Anbeginn Deines künstlerischen Schaffens. Niemals aber so ausgeprägt, wie heute, wo Du selbstbewusst Dein großes Gemälde „Frieden“ an die straßenseitige Hauswand hängst. Darauf ein Gedicht der jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer: „Wiederkäuer“

Im übersättigten
Hungerjahrhundert
kaue ich die Legende 
Frieden 
und werde nicht satt

Kann nicht verdauen
die Kriege sie liegen
mir wie Steine im Magen 
Grabsteine

Der Frieden
liegt mir am Herzen 
ich kaue

das wiederholte Wort 
und werde nicht
satt

Du verbindest das Grauen mit der Hoffnung, mit dem Bunten, dem Blumigen, malst und drückst hier, wie auch in vielen Deiner anderen Kunstwerken die Utopie eines besseren Lebens aus. Kein Ort, nirgends, aber immerhin in Deiner Kunst schon gegenwärtig.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen inspirierenden Rundgang, lustvolles Hinschauen und
Hinhören und anregende Gespräche. 

Priv.-Doz. Dr. Ralf Michael Fischer

 

 

Das Oeuvre von Annette Weber zeichnet sich durch eine ungewöhnliche kreative Vielseitigkeit und Vielfalt aus. 
Sie setzt ihre Materialien aber dennoch sehr bewusst ein. 
Mit assoziativ-vielschichtigem Anspielungsreichtum verdichtet Annette Weber in ihrer Kunst Bezüge zu ihrer Biografie, zu aktuellen gesellschaftlichen Themen, zur Kunstgeschichte sowie zu den jeweiligen Präsentationsorten – letzteres insbesondere in den Arbeiten für den öffentlichen Raum. 
Von der bisweilen spielerischen Wirkung ihrer Werke darf man sich nicht ablenken lassen, da diese ihre Hintergründigkeit und ihre subversiven Potenziale oft erst auf den zweiten oder dritten Blick offenbaren. Sie sind im besten Sinne eine Herausforderung zum genauen, zum kritischen und vor allem zum kreativen Sehen. Als Künstlerin ist sie gleichzeitig in verschiedenen Medien wie Bildhauerei, Malerei, Video und Performance zuhause.