Ralf Michael Fischer (Hg.), “Im Dialog mit Hans Purrmann Kunst der Moderne und Gegenwart in Langenargen”, Museum Langenargen, ISBN 978-3-00-068412-8

 

Annette Weber (geb. 1957) ist in verschiedenen Medien wie Malerei, Zeichnung, Plastik und auch Videokunst zuhause. Im Vorfeld dieser Ausstellung hat sie sich in einen indirekten kritischen Dialog mit Hans Purrmann begeben, indem sie in einer ganzen Bilderserie nach den Lebensbedingungen von Mathilde Vollmoeller-Purr­mann als Künstlerin und Künstlergattin fragt. Ohne die Unterstützung seiner Frau und die Beendigung ihrer Karriere hätte sich Purrmann nämlich schwerlich so intensiv auf seine Kunst konzentrieren können. Weber fertigte Portrait Vollmoeller 2019 (Abb. 38) nach einem markanten Ölporträt an, das deren erste Lehrerin Sabine Lepsius (1864-1942) um 1900 von der Mittzwanzigerin anfertigte.83 Der skizzenhafte Stil der Zeichnung thematisiert Mat­hilde Vollmoeller-Purrmanns Gesicht vor dem „Fast­Verschwinden“84 und reflektiert dergestalt ihre durch gesellschaftliche Konventionen bedingte Verdrängung aus der Kunstgeschichte im Schatten ihres Ehemanns. Innerhalb der Ausstellung ist auch eine umgekehrte Wahrnehmung möglich, denn inmitten ihrer Aquarelle scheint ihr Gesicht wieder Gestalt anzuneh­men. Auf jeden Fall würdigt Annette Weber das Talent, aber auch das große Opfer von Purrmanns Ehefrau und sie verleiht ihr mitsamt ihrem Schicksal verstärkte Sichtbarkeit. Der gezeichnete Rahmen um Vollmoeller-Purrmanns Kopf ist nicht nur als Anpassung des Bildformats gedacht, sondern er soll ihre ‚Gefangenschaft‘ in gesellschaftlichen Bedingtheiten visualisieren, die sie an einer freien Entfaltung ihrer künstlerischen Begabung gehindert hat.85

Die Praxis einer interpretierenden Aneignung des Bildmaterials an­derer prägt auch weitere Bilder aus Webers Serie. Sehnsucht nach dem Anderen, ebenfalls von 2019 (Abb. 39), formu­liert das Detail einer Fotografie um, die als Umschlagmotiv der gleichnamigen Publikation der frühen Korrespon­denz mit Hans Purrmann fungiert und Vollmoeller-Purrmann während der Hochzeitsreise 1912 in Ajaccio zeigt.86 Indem Weber ein schmales Hochformat der stehen­den Mathilde Vollmoeller-Purrmann herauslöst und nach oben wenig Luft lässt, betont sie auch hier ein Gefühl der Beengung. Wie Stengelin arbeitet Weber mit Schichtungen, die sie in einem skiz­zenartigen Stil verdichtet. Dabei reichert sie das Motiv subversiv an, indem sie in bzw. hinter dem Rock Vollmoeller-Purrmanns eine Landschaft mit Schloss Montfort platziert, die man aber nur erkennt, wenn man den Kopf um 90° nach links neigt. Im Entstehungskontext von Webers Serie erfährt der Titel in der Tat eine Umdeutung: Im Gegensatz zur Briefedition scheint nicht die Sehnsucht der Liebenden nach ihrem Geliebten auf, sondern die Sehnsucht der Künstlerin nach dem, worauf sie als Ehefrau verzichten muss.

Auch Algenschloss entstand 2019 (Abb. 41). Das Gemälde präsen­tiert zwar einen Blick auf Schloss Montfort, wie wir ihn speziell von Hans Purrmann kennen, doch der dominante giftgrüne Farbton sticht zu intensiv ins Auge, um eine ähnlich idyllische Wirkung zu entfalten. In diesem Bild greift Annette Weber hintersin­nig ein aktuelles Problem auf, das nicht zuletzt auf die Klimaerwärmung zu­rückzuführen ist: die Ge­fahr eines enthemmten Algenwuchses am Boden­see, wie er in Langenargen tatsächlich bereits aufge­treten ist – es handelt sich um ein Freilichtbild, das die Künstlerin bei ihrer Woh­nung „am stinkend in der Sommersonne brodeln­de[n] grünen Algen-Strand“ schuf.87 Mit diesem Thema führt Weber mit Nachdruck vor Augen, dass die Um­welt aus dem Gleichge­wicht geraten ist. Die grüne Farbe wirkt wie ein Schleier, der zwischen uns und der eigentlich schönen Szenerie aufsteigt und evo­ziert mit visuellen Mitteln den Gestank, der solche ‚Algeninvasionen‘ zu begleiten pflegt. Es herrscht buchstäblich ‚dicke Luft‘, zugleich aber auch eine farbliche Stimmigkeit, die nicht zu aggressiv, sondern eher ausdrucksstark-zwiespältig daherkommt. Eine solche Ambivalenz ist dem Thema angemessen, denn Annette Weber verbindet Ästhetik und kritisches inhaltliches Anliegen, um einer bitteren Ironie Ausdruck zu verleihen: Die mediterrane Bodenseeatmosphäre, die Purrmann zum Ausgangspunkt seiner idyllischen Bildschöpfungen machte, gründet in den gleichen Bedingungen wie die optisch-olfaktorische (Zer-) Störung der Szenerie, nämlich in Hitze und viel Licht! Die Doppeldeutigkeit von Algenschloss setzt sich im Wortspiel des Titels fort, der unzweideutig auf die Bezeichnung

Großer Löwe (Artikel Südkurier)
Annette Portrait von Lena Reiner

Prof. Dr. Eva Borst „walking ideas“, 1. Juni 2019

 

Liebe Annette,

es ist nicht ganz einfach, diese Einführung in Dein 40jähriges Wirken zu bewerkstelligen, nicht nur, weil Du in diesen 40 Jahren eine Fülle an Kunstwerken geschaffen hast. Sondern auch, weil Du Dich immer wieder denkend, fühlend, nach Ausdruck suchend auf sehr unterschiedliche Wege begeben hast: Walking Ideas – 40 Years
Gewissermaßen obsessiv suchtest Du nach neuen Formen, die, bei näherer Betrachtung durch ein unsichtbares Band irgendwie zusammengehalten werden. Nun, wenn ich das in aller Kürze aufzählen darf: Du hast Brunnen gebaut, überlebensgroße Skulpturen geschaffen, hast Dich auf das Abenteuer der Videokunst eingelassen, Malerei sowieso und, unter anderem, um Dir das unabhängige Leben einer freischaffenden Künstlerin zu finanzieren, kleine feine Statuetten aus Ton geformt. Nebenbei, das darf nicht fehlen, hast Du Dich an der vergänglichen Kunst der Performance beteiligt. Die Genres, in denen Du tätig bist, sind hiermit erst einmal abgehandelt. Aber was wäre die Form ohne Inhalt?

Es war mir bei der Vorbereitung zu diesem Vortrag ein außerordentliches Vergnügen festzustelle, dass, bei allem Humor, der vielen Deiner Kunstwerken zu eigen ist, sozusagen hintergründig – also hintendran – unausgesprochen etwas mitläuft, das man als Alterität bezeichnen kann. Das Andere! Das Andere als Möglichkeit! Oder genauer noch: das Andere als eine Kritik an der kulturellen Tradition, die auch hätte anders verlaufen können, hätten die Menschen es nur zugelassen. Du bist also im wahrsten Sinne des Wortes Perspektivwechslerin und Grenzgängerin in einem: non-konformistisch – immer, herausfordernd – dauerhaft, anarchisch – manchmal, dabei aber stets risikobereit, weil Du zwar mit Deiner Kunst Freude bereiten willst, andererseits aber höchst provokativ die Ordnung, das Selbstverständliche in Frage stellst.

Und damit sind wir beim Inhalt. Der kommt zunächst einmal ziemlich unaufgeregt daher. Aber: er sprengt Fesseln, kraftvoll, energiegeladen, verschafft sich Raum, stellt sich anders dar als erwartet und bleibt doch immer auch poetisch, berührend.

Ich möchte das an einem Beispiel demonstrieren, das Deine inhaltliche Arbeitsweise, wie ich meine, wunderbar zu illustrieren vermag. Und das sehr anschaulich zeigt, dass Deine Kunst durchaus keine Spielerei ist. Mit großer Ernsthaftigkeit und Entschiedenheit nämlich prüfst Du beispielhaft die religiösen Symbole der christlichen Kirche bis zur letzten Konsequenz auf ihre Legitimität, ohne freilich das sakrale Versprechen – die Spiritualität – zu denunzieren. Du wendest Dich nicht ab, sondern du bringst verborgene Dimensionen zum Vorschein. So etwa, wenn Du Dich auf die steinzeitlichen, weiblichen Figurinen beziehst, die für den Anfang des Lebens stehen, heutigen tags aber – wenn überhaupt – nur noch seelenlos in den Vitrinen der Museen ein trauriges Dasein fristen. Und wenn Du die Linie unmittelbar fortsetzt zu Eva und weiter zu Maria und Maria Magdalena, in der Überlieferung zur Sünderin stigmatisiert.
Du hast Dich in die Räumlichkeiten der Heiligkeit begeben und hast, wie es so Deine humorvolle Art ist, erst einmal eine rote Funzel über dem Eingang der Kirche aufgehängt und damit den Gläubigen schon mal klar gemacht, dass es hier zwei Seiten gibt, wenn sie den Ort betreten: Madonna oder Hure? In den sakralen Gebäuden des Patriarchats, als Peep-Show inszeniert, die große Heuchelei, heute aktuell im geradezu monströsen Ausmaß des sexuellen Missbrauchs. Das ist schon lange her, 1995, aber Deine Figur „Not for Sale“ knüpft an diese Serie an und thematisiert die Flucht der Kinder vor Krieg direkt in die Arme ihrer Vergewaltiger.

Nun, Du hast Dich dem Lebendigen verschrieben und stellst ganz ungeniert die Frage nach seinem Wert in dieser Kultur. Indem Du den Zeitstrahl bis weit nach hinten und weit nach vorne ausdehnst, Geschichte und Geschichten, alte Mythologien und Alltagsmythen ausgräbst und ihnen Gestalt verleihst, machst Du auf einen Verlust aufmerksam, der uns alle betrifft. Deine Kunst der zerbrechenden Tradierungen – so möchte ich sie mal nennen – ist in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit ausgesprochen klar. Zum Beispiel Deine Madonnen Figuren.

Sie symbolisieren nicht die Unbeflecktheit einer Heiligen, sondern ganz im Gegenteil den Ursprung eines lustvollen Lebens. Luce Irigaray, die Philosophin aus Frankreich, hat mit ihrem sprachlichen Speculum die Einkerkerung der Weiblichkeit ausgeleuchtet: Weibliche Sexualität und Mutterschaft sind demnach unvereinbar in dieser Welt des väterlichen Logos, der die Erinnerung an das, was mal war, ausgelöscht hat. Verstörend deshalb der Blick in das Innere der „Video ma Donna“. Es sind die Hände einer Hure, die sich da bewegen: Galanterie und Verachtung, ausgedrückt in einer einzigen Figur.

Deine Plastiken indes deuten zurück auf die steinzeitlichen Mutteridole und auf die kleinen Figurinen aus den Jahren Deines Studiums. Zugleich aber weisen sie voraus, etwa auf „Paula“. Paula Modersohn-Becker, die es als erste Künstlerin 1907 gewagt hat, sich nackt und schwanger darzustellen, selbstbewusst und voller Schöpferkraft. Sie
störte mit ihrem expressionistischen Tafelbild, wie auch Du heute mit Deinen Tonskulpturen, das Einverständnis in die kulturelle Hegemonie. Die „Steinzeugin Nr. 3“ (es gibt insgesamt vier davon): überlebensgroß steht sie stumm und blind im Garten, bewegungslos bezeugt sie die uralte Unterdrückung und ist doch ausgestattet mit einer Kraft, die Befreiung verheißt. Den väterlichen Logos, das körperlose Wort der Bibel, bringst du so zum Verblassen.
Dass Du Dich als Künstlerin nicht dem Diktat der kleinen Form beugst, sondern große, schwere, auf Dauer hin angelegte Kunstwerke schaffst, zeigt sich auch im Brunnenbau. Das Wasser, die Wassertiere, die Wasserfrau, der Wasserelefant, das Wasserschloss, alles Hinweise auf die Herkunft der Tiere und der Menschen aus dem Wasser. Du gehst also noch einen Schritt weiter zurück in die Vergangenheit, an den Ursprung allen Seins und holst diesen Uranfang in das Bewusstsein zurück. Aber Du wärest nicht Du, wenn Du nicht auch hier wieder dem Strom des Wassers über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart hinein folgen würdest. Spurensuche betreibst Du in den Tiefen der Archive, die nicht nur über untergründige Wasseradern Auskunft geben, an denen Du die Brunnen ausrichtest, sondern auch von verborgenen Geschichten erzählen. Eingebrannt in Majolikafliesen sind sie unwiderruflich auf den Plätzen Deiner Brunnen präsent, Orte der Kommunikation und des Austauschs darüber, was einmal war. Budenheim, Essenheim, Kressbronn….

Alle diese Brunnen entstanden im Kollektiv. Albrecht hat die beschwerliche Arbeit der Bauplanung auf sich genommen, Schulkinder und auch Deine eigenen Kinder haben sich an der Gestaltung der Fliesen beteiligt und Du hast allem den künstlerischen Rahmen verliehen. Kinder haben Dich immer wieder beim Schaffen Deiner Kunstwerke begleitet, haben von Dir gelernt, um ihren eigenen Ausdruck zu finden.

Der Frosch, das Wassertier. In Deinem Garten in Langenargen am Bodensee lebt eine Vielzahl dieser Spezies, liebevoll gepflegt und aufmerksam beobachtet. Aber wer hätte je gedacht, dass den alten Ägyptern die Frösche heilig waren, wie überhaupt verschiedenen anderen Kulturen auch? Wer hätte je gedacht, dass Deine kugelrunden Froschskulpturen kurz vor dem Sprung stehen? Energiespeicher! Und wer hätte je gedacht, dass der Froschsprung nach den Gesetzen der Schwerkraft gar nicht möglich ist? Aber dennoch geschieht er hundertfach! Nur der Frosch weiß, wie es geht! Das Wunder des Froschs: er steht für Heilung und Heiligung, es steht für Ruhe und Energie genauso wie er Symbol der Wiederauferstehung ist. Schließlich kann er, einmal tiefgefroren wie tot, wieder zum Leben zurückkehren. Abstrahiert, reduziert auf eine Kugel, stellt er kulturhistorisch die vollkommene Form dar.

Der Frosch kommt in vielen archaischen Religionen vor. Aber wer hätte je gedacht, dass er auch im Christentum eine Rolle spielt? Mit dem Kreuz Christi auf dem Rücken?

Was Du in Deiner Kunst zusammenbringst, ist für gewöhnlich getrennt, abgespalten, diffamiert, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Du bist im besten Sinne Aufklärerin, die sich dem Leben verpflichtet fühlt, aber die Darstellung der Gewalt nicht fürchtet. Die Madonnen, die Huren, die Steinzeugen, die gequälte Kreatur scheinen auf den ersten Blick so gar nichts mit den Fröschen zu tun zu haben. Aber der zweite Blick verrät dann doch, dass Du die Gefahr kennst, ihr
aber trotzt, weil Du in den unendlichen Stunden des Literaturstudiums, der körperlich anstrengenden Arbeit mit Ton und der Auseinandersetzung mit Deinen eigenen kreativen Fähigkeiten Deine Artefakte zum Sprechen bringst. Der Frosch zum Beispiel, eine Amphibie, lange Zeit verachtet, gewinnt seine geheiligte Seele zurück, der Hure verleihst Du Würde, die Madonna befreist von ihrer unkörperlichen Mutterschaft und mit der stolzen Steinzeugin zeigst Du auf eine Geschichte, die so nicht mehr stattfinden darf. Und den Hitler würdest Du am liebsten auf den Mond schießen. Vielleicht kann es der Papst ja richten, wenn er mitfliegt.

Und nun bin ich zum Schluss bei einem Thema angelangt, das Dich schon lange bewegt. Eigentlich schon seit Anbeginn Deines künstlerischen Schaffens. Niemals aber so ausgeprägt wie heute, wo Du selbstbewusst Dein großes Gemälde „Frieden“ an die straßenseitige Hauswand hängst. Darauf ein Gedicht der jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer: „Wiederkäuer“

Im übersättigten
Hungerjahrhundert
kaue ich die Legende 
Frieden 
und werde nicht satt

Kann nicht verdauen
die Kriege sie liegen
mir wie Steine im Magen 
Grabsteine

Der Frieden
liegt mir am Herzen 
ich kaue

das wiederholte Wort 
und werde nicht
satt

Du verbindest das Grauen mit der Hoffnung, mit dem Bunten, dem Blumigen, malst und drückst hier, wie auch in vielen Deiner anderen Kunstwerken die Utopie eines besseren Lebens aus. Kein Ort, nirgends, aber immerhin in Deiner Kunst schon gegenwärtig.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen inspirierenden Rundgang, lustvolles Hinschauen und
Hinhören und anregende Gespräche. 

Priv.-Doz. Dr. Ralf Michael Fischer

 

 

Das Oeuvre von Annette Weber zeichnet sich durch eine ungewöhnliche kreative Vielseitigkeit und Vielfalt aus. 
Sie setzt ihre Materialien aber dennoch sehr bewusst ein. 
Mit assoziativ-vielschichtigem Anspielungsreichtum verdichtet Annette Weber in ihrer Kunst Bezüge zu ihrer Biografie, zu aktuellen gesellschaftlichen Themen, zur Kunstgeschichte sowie zu den jeweiligen Präsentationsorten – letzteres insbesondere in den Arbeiten für den öffentlichen Raum. 
Von der bisweilen spielerischen Wirkung ihrer Werke darf man sich nicht ablenken lassen, da diese ihre Hintergründigkeit und ihre subversiven Potenziale oft erst auf den zweiten oder dritten Blick offenbaren. Sie sind im besten Sinne eine Herausforderung zum genauen, zum kritischen und vor allem zum kreativen Sehen. Als Künstlerin ist sie gleichzeitig in verschiedenen Medien wie Bildhauerei, Malerei, Video und Performance zuhause.

 

Katrin Seglitz

Einführung in die Ausstellung von Annette Weber im Rathaus in Langenargen am 1.Juni 2017

 

Sich sammeln, Luft holen, Raum geben

 

Ich nehme mir das jetzt mal raus, sagte sie.

Annette Weber hat sich rausgenommen aus der Tagespolitik, aus den Katastrophen, die anbranden, sobald man den Fernseher anmacht. Sie hat sich der Landschaft zugewendet, die vor ihrer Haustür liegt, in der und durch die sie sich bewegt, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht und mit sich reißt.

Wie kann man sich dieser Umgebung entziehen? Als Künstlerin?

Will man sich ihr entziehen?

Das Schönste ist doch, sich ihr hinzugeben. Darum kommen die Menschen an den Bodensee, kommen nach Langenargen, um alles abzugeben, was sie bedrückt und bekümmert, um zur Ruhe zu kommen und sich dem Licht zu überlassen, der Luft und dem Wasser, der Sicht auf die Berge.

Und genau das hat Annette Weber sich erlaubt mit dieser Ausstellung, sich rauszunehmen auch aus dem kritischen Anspruch, den sie an die Kunst und an das Leben hat, als eine, die im Dunstkreis der Nach-68er studiert hat in Mainz und in Saarbrücken.

Wir kennen die Zeilen von Brecht:

Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Trotzdem hat Brecht von Bäumen geschrieben – und Annette Weber hat beschlossen, trotzdem den See zu malen. Und die Berge. Und den Himmel. Und das Schloss. Obwohl ein Schloss ja sowas von… kitschig ist. Eigentlich.

Aber da steht es, auf der Landzunge, die in den See hineinragt.

Warum es nicht malen? Weil es auf allen Postkarten zu finden ist? Weil es ein beliebtes Fotomotiv ist für alle, die nach Langenargen kommen? Deshalb einen Bogen drumherum machen?

Nein, Annette Weber hat sich entschlossen, dem Schloss einen Platz auf ihren Bildern zu geben, es zum Bezugspunkt zu machen, zum Ausgangsort und Ziel visueller Ausflüge über den See, in die Berge und über die Berge hinweg in den Himmel.

Auf ihren Bildern wird das Schloss zum Halt in der Haltlosigkeit der Elemente – Licht, Luft und Wasser. Ein märchenhafter Sehnsuchtsort, der materialisierte Wunsch eines monarchistischen Träumers. Ein prägnanter, auffälliger Bau, das Wahrzeichen der Gemeinde Langenargen.

Es gab Vorgängerbauten, die Römer hatten hier zwei Wachtürme hingestellt, die Grafen von Montfort im 14. Jahrhundert die Veste Burg Argen, die während des 30-jährigen Kriegs zerstört und danach wieder aufgebaut wurde. Aus der Burg entstand ein Schloss, aus dem Schloss ein Gefängnis. Es verfiel, wurde zur Ruine. Auf deren Fundament Ende des 19. Jahrhunderts ein Lustschloss gebaut wurde.

Im maurischen Stil.

Lassen Sie mich einen Exkurs machen zum maurischen Stil.

Lassen Sie uns in den Brunnen der Geschichte springen, das scheint mir passend und wichtig für das Verständnis des Werks von Annette Weber, einer Künstlerin, die immer wieder Brunnen entworfen und gebaut hat, einen Luftbrunnen in Essenheim und den Kompassbrunnen in Kressbronn.

Wer sind die Mauren?

Nomadisch lebende Berber aus Nordafrika, die ab dem 7. Jahrhundert von den Arabern islamisiert wurden und bei der Eroberung Spaniens halfen. Sie kamen aus Tunesien, Algerien und Marokko und brachten einen Baustil mit, der als maurisch bezeichnet wird. Eines der schönsten und bekanntesten Beispiele für diesen Baustil ist die Alhambra in Granada.

Im 19. Jahrhundert erwacht in Europa die Faszination an maurischer Kunst und Architektur. In der Stuttgarter Wilhelma wird ein Maurisches Landhaus gebaut und eine Damaszenerhalle – ja, Damaszener sind die Menschen aus Damaskus. König Ludwig der II lässt in Schloss Linderhof einen zauberhaften maurischen Kiosk bauen, und Wilhelm I., König von Baden-Württemberg, baut Schloss Montfort.

Über die Namensgeber, die Familie der Montforts, ist das Schloss verwandtschaftlich verbunden mit Barbarossa, Herzog von Schwaben und Kaiser des deutsch-römischen Reiches. Der Rotbart Barbarossa brach 1189 zu einem Kreuzzug auf ins Heilige Land, mit 15.000 Menschen. Vermutlich waren auch Bewohner aus Langenargen dabei.

Die historischen Schichten, die sich aufblättern lassen, machen Langenargen und Schloss Montfort zu einem weltläufigen Ort, zu einem Zeichen der Befruchtung der Kulturen, zu einem Zeichen der sehr vielfältigen, sehr unterschiedlichen Verbindungen von Orient und Okzident.

Gerade aktualisieren sie sich durch die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind. Gerade wird ein neues Kapitel aufgeschlagen in dieser Geschichte. Und diese Schicht ist Gegenwart für uns. Nach allen Seiten hin offen.

In diese Offenheit hinein arbeitet Annette Weber.

Und auch, wenn sie entschlossen war, sich von den Problembergen abzuwenden und der Landschaft zuzuwenden, sind die Schichten der Geschichte präsent. Man entkommt ihnen nicht, und das will sie ja eigentlich auch gar nicht. Weil es sie immer wieder hineinzieht in den Brunnen der Zeit, eine Goldmarie, die fündig wird, wenn sie sich fallen lässt.

Auch in ihren Arbeiten kann man die Schichten entdecken, frühere Arbeiten, das Motiv des Froschs, mit dem sie in den letzten Jahren viel gearbeitet hat, er taucht, wenn man genau hinschaut, aus der Tiefe einiger der hier ausgestellten Bilder auf und macht eine Zeit sichtbar, die mehrere tausend Jahre alt ist.

Annette Weber ist eine Künstlerin, die schichtet. Die sich in den Brunnen der Zeit fallen lässt und wochenlang abtaucht, wenn sie mit neuen Arbeiten beginnt.

In diesen Phasen lebe ich wie ein Mönch, sagte sie im Gespräch. Ich brauche Zeit und Ruhe, ich muss mich sammeln, um überzeugende Arbeiten machen zu können.

Als sie anfing, mit dem Gedanken zu spielen, sich dem Schloss zuzuwenden, hat sie auch Das Schloss von Kafka gelesen, stellte aber fest, dass es Kafka um etwas ganz anderes ging als ihr. Die Lektüre war trotzdem keine Sackgasse, in der Auseinandersetzung mit den Werken anderer Künstler schärft sich der Blick auf den eigenen Weg.

Als sie beschloss, sich der Landschaft zuzuwenden, begann ein Prozess, der für sie beglückend war. Und ist.

Mit Pastellkreiden und Kohle hat sie zeichnend und malend die Landschaft befragt, in der sie seit 19 Jahren lebt. Sie hat Stunden draußen verbracht, Luft und Licht in sich aufgenommen, den Blick auf den See und die Berge, sie ist Teil der Landschaft geworden und die Landschaft ein Teil von ihr. Und dann hat sie losgelegt, dann haben sich die Eindrücke ihren Weg gebahnt aufs Papier.

Die Bilder, die entstanden sind, zeugen von der Meisterschaft, die ihr über die Jahre und Jahrzehnte künstlerischer Arbeit zugewachsen ist.

Sie hat Bildhauerei und Malerei studiert, sie hat Frauenfiguren gemacht, die an die Venus von Willendorf erinnern und sich doch von dem Urbild lösen. Annette unterlegte sie mit Sätzen von Ingeborg Bachmann, was mich berührt hat als Grenzgängerin zwischen den Künsten, der Literatur, der Kunst und der Philosophie.

Von Februar bis Ende Mai sind die Bilder, die Sie hier sehen, entstanden. Wir sind Zeugen eines Arbeitsprozesses, in dessen Verlauf das Schloss erst einen zentralen Platz einnahm, dann aber in den Hintergrund getreten ist.

Mir gefallen die Bilder, sagte Annette, in denen das Schloss nur noch ein Hauch ist, eine Idee.

In diesem Vorgang – im Auftauchen und Verschwinden – hat sich ihr auch die Frage nach der eigenen Identität gestellt. Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Nicht nur die Landschaftsmalerei hat sich in den letzten zweihundert Jahren befreit vom Zaumzeug akademischer Vorschriften, Zuschreibungen und Definitionen, sondern auch die Menschen in Europa.

Es geht um Freiheit. Und um Selbstbestimmung.

Lassen Sie mich hier einen zweiten Exkurs machen. Diesmal springen wir nicht in den Brunnen, sondern machen eine Himmelfahrt, einen Ausflug in die Landschaftsmalerei.

„Der Himmel ist die Stimmgabel der Natur – für die Farbe, für den Grundton eines Bildes.“

So heißt es in einem kunsthistorischen Buch über Wolken.

Himmel und Wolken waren lange Zeit nur die Folie für das eigentlich Wichtige, für die Darstellung religiöser, mythologischer oder geschichtlicher Ereignisse. Auch wenn Tizian bereits 1544 in einem Brief schreibt: „Als die Menschenmenge mit fröhlichem Applaus ihres Weges gegangen war, wandte ich (…) meine Augen gen Himmel; dieser hatte noch nie seit Gottes Schöpfung ein so schönes Bild von Licht und Schatten gezeigt. (…) im Vordergrund schienen die Häuser, obwohl sie doch aus wirklichem Stein, wie gemalt. Und den Himmel fand ich an einer Stelle klar und lebendig, an anderer trüb und fahl. (…) Oh, mit welch kunstvollen Zügen führte da die Natur ihren Pinsel, malte sie den Himmel und setzte ihn von den Palästen ab…“

So schwärmt Tizian.

Aber erst Ende des 18. Jahrhunderts haben sie ihren Auftritt, dann rücken sie in den Fokus der Aufmerksamkeit der Maler und Malerinnen: der Himmel, die Wolken, das Licht. Ein Kreis französischer Künstler trifft sich um 1800 in Rom.

Sie verlassen die Ateliers, malen draußen, Skizzen entstehen, einer von ihnen, Valenciennes, analysiert als erster systematisch die optischen Phänomene des Himmels: Luft und Licht, Dämpfe und Nebel, Wolken, Regen und Gewitter.

Das Studium des Lichts und der Wolken wird zur wichtigsten Übung der Landschaftsmaler, der Himmel ist l’âme et la vie – die Seele und das Leben eines Landschaftsbildes. Die Wolken sind nicht mehr Sessel und Sofas der Götter. Stattdessen entstehen in der Malerei weite, von Licht erfüllte Landschaften. Die immer wieder von Wolken verschattet werden.

Für John Constable sind die Wolken die Ikonen des Augenblicks, William Turner löst in seinen Bildern die Unterschiede der Elemente auf und lässt sie miteinander verschmelzen.

Das sind die Väter, die Ahnen der Bodenseebilder von Annette Weber.

Sie setzt sich und das Schloss der Natur aus, die nicht nur gnädig ist, sondern auch brutal sein kann, wenn es hagelt, stürmt und schneit, zur falschen Zeit, etwa, wenn alles blüht, so wie in diesem Jahr. In ihren Bildern transportiert sie atmosphärische, aber auch subjektive Stimmungen.

Das Schloss wird zur Chiffre – dazu trägt bei, dass sie es immer aus dem gleichen Blickwinkel malt, links das Land, im oberen Drittel das Schloss, rechts der See, der ins Offene führt – dahinter die Berge.

Genius Loci hat sie das größte Bild genannt.

Nur, wenn ich viel Kraft hatte, sagte sie, bin ich an dieses Bild gegangen.

Und es ist ein kraftvolles Bild geworden. Mit einer Materialisierung von Windstößen und Lichtsetzungen, einem Schauer ins Bild gewehter Striche, die an Blüten erinnern oder an Federn, hell, licht, geglückt das pastos auf die Leinwand aufgetragene Weiß, in das Gelb hineinspielt, Blau und Grün.

Ich habe das festgehalten, sagte sie, was ich in der Landschaft erlebt habe in den vergangenen Monaten – als die Aprikosenbäume geblüht haben, als es dann schneite und der Schnee auf den Blüten lag. Ein Bild heißt Saharasand und zeugt von den Stürmen, die über die Alpen kommen und Sand mitbringen, aus der Sahara.

Beeindruckend auch das Narrenschloss, das entrückt ist, ein Tanz aprikosenfarbener Lichter – vom Grau umschlossen und bedroht. E.T.A. Hoffmann erzählt in einer Geschichte von einem Maler, der ein großes herrliches Gemälde beendet, das für ihn das wiedergewonnene Paradies darstellt. Seine Besucher können allerdings nur eine grau grundierte Leinwand erkennen.

Wie ist das zu verstehen?

Vielleicht als Parabel auf das Umkippen des Paradieses der Fülle in das Paradies einer erwartungsvollen Leere.

Das Montforter Lustschloss, das der Ravensburger Oberamtsbaurat Gottlieb Pfeilsticker für König Wilhelm I. im maurischen Stil errichtet hat, wird bei Annette Weber zum Luftschloss, es wird zu einer Art Schloss, zu einem Art-Schloss, einem Kunstschloss, es ragt ins Bild hinein,

es ist präsent und doch entrückt,

mal nur ein Hauch,

mal überblüht

mal vernebelt,

mal umnachtet,

mal umstürmt.

Da steht es. Ist anwesend und entzieht sich. Es sieht aus wie eine Schatulle, eine Schatzkiste. Der Turm ist der Griff. Den Turm greifend, könnte man die Kiste öffnen. Und was ist drin? Geschichte. Und Geschichten. Von Annette, von ihrem Leben am See, mit ihrem Mann, mit ihren Kindern, mit der Kunst. Geschichten der Menschen in Langenargen. Geschichten von blauem Blut und rotem Blut und Blüten. Aprikosen- und Pfirsichblüten. Und einer Ahnung kommender Ernte, der Hoffnung, dass es auch in diesem Jahr wieder Früchte gibt, trotz Frost – Hände voll – Früchte.

Die Bilder, die hier im Rathaus ausgestellt sind, sind die Früchte der Arbeit von Annette Weber. Ich wünsche Ihnen viel Freude an dieser Ernte, mögen die Bilder Ihre Wahrnehmung schärfen von See und Schloss, von Himmel und Bergen. Und, darauf möchte ich auch hinweisen: es ist möglich, sie zu erwerben.