Vernissage Annette Weber, „Froschsprung“, 23. September 2016,
Buch – Kunst – Galerie Jäger Langenargen

 

 

Die Natur spiegelt die Seele – zum Beispiel im Haiku, jenem kürzesten aller Gedichte japanischen Ursprungs. Ein Moment, verbunden mit Wahrnehmungen und Gefühlen, mit Seelenzuständen – verschlüsselt in einem poetischen Bild, der Natur entliehen 

Der alte Teich 

Ein Frosch springt hinein
das Geräusch des Wassers
Basho
So poetisch und uneindeutig wie dieses Haiku aus dem 17. Jahrhundert, das Sie übrigens auch in den kleinen Katalog finden, der heute Abend erstmals vorgestellt wird, sind Annette Webers Frösche. Bis zum 5. November zeigt sie ihre besonderen, tönernen – und bisweilen auch tönenden – Lurche hier bei Inge Jäger in diesem literarischen, geistig aufgeschlossenen Umfeld, das gut zu Annette Webers Arbeit passt. Denn auch Annette Weber setzt sich immer wieder und immer wieder neu auseinander mit ihrem Motiv, das sie bereits seit vielen Jahren begleitet. Literatur, Ökologie, Physiologie, Hirnforschung, die Symbolik unterschiedlicher Kulturen und Religionen – viele Brücken zwischen diesen Inhalten und dem Froschmotiv entdeckt sie, spannt sie auf und sichert sie, indem sie Aspekte und Bezüge mehr oder weniger bewusst in ihre Skulpturen herein formuliert.
Zum Beispiel: das Springen 

Der Froschsprung ist einmalig, physiologisch, so hat die Bildhauerin gefunden, beinahe nicht möglich. Aber das Unmögliche findet statt, jeden Tag an den Tümpeln und Teichen, in denen diese amphibischen Wesen, die sich zwischen Wasser und
Land bewegen, leben. Wir kennen – ich weise nur zurück auf das kleine Gedicht von Basho – dieses charakteristische etwas matschige Plopp, das der Sprung ins Wasser auf der Flucht vor uns erzeugt. Es ist kein Platsch, kein Aufspritzen, sondern eben dieses besondere kleine Geräusch, das uns oftmals Leben zeigt, wo wir es noch gar nicht wahrgenommen hatten. So unspektakulär wie der vermeintlich unmögliche kleine Sprung des Frosches. Und eben das Springen, unser hilfloses Nachahmen des Frosches, macht, dass das Gehirn des Menschen besonders gut funktioniert, stimuliert wird. Es soll manchmal Migränen oder auch Depressionen vertreiben. Und was macht Annette Weber daraus? Einen ganz klitzekleinen Film, den Sie entdecken können, wenn Sie dem richtigen Frosch tief in die Augen blicken. So spielerisch und doch ernsthaft, so munter und doch sehr nachdenklich. 

Spiel und Ernst, Munterkeit und Nachdenklichkeit – das sind für mich die zusammenfassenden Attribute über all diesen „dicken, herrlichen Geschöpfen“. So hat Annettes Webers einstige Deutschlehrerin sie genannt in ihrem Katalog-Text.

Und diese Korrelation aus Spiel und Ernst formuliert meines Erachtens ein Vierzeiler von der im KZ ermordeten Gertrud Kolmar, den Helga Mosler, eben jene Deutschlehrerin, für Annette gefunden hat.

Ich habe einen kleinen Frosch gesehen,
Ein grünes Fröschlein auf dem dunklen Blatt.
Es weilte, wohl von Schmaus und Springen satt,
Ganz kindernackt, mit Augen, die verstehen.


Ein grünes Fröschlein, vom Springen und Schmausen satt, hockt da, „auf dem dunklen Blatt“, das vielleicht nichts Gutes verheißt. Ruhig und unschuldig wie ein Kind – aber mit Augen, die verstehen. Augen, die die frühe Reife sehend macht, die
wissen, die durchschauen – was auch immer: uns, die bedrohliche Welt, das nicht immer ganz einfache Leben. Die Weisheit der Unschuld – die Unschuld der Weisheit.
Spiel und Ernst, Munterkeit und Nachdenklichkeit.
Als Begleiter von Hexen, als Symbol der Auferstehung, als Froschkönig im Märchen, als Indikator für die Versehrtheit der Natur und so fort nimmt Annette den Frosch ernst, spürt ihm nach, kommt ihm auf die Schliche. Und doch hat man das Gefühl, dass sie keine endgültige Deutung, keine finale Antwort findet auf all die Fragen, die das Motiv an sie richtet. Sie bleibt offen und kann deshalb auch so überzeugend so lange an diesem Motiv sich abarbeiten.

Annette Weber enthebt die Frösche, die tatsächlich biologische Vorbilder haben, ihres Naturalismus. Sie wählt für den keramischen Ton die Kugel als Grundform. Diese Idealform, die Vollkommenheit und im Zen-Buddhismus Heiligkeit, auch Kern und Ursprung impliziert, wird zur geballten Energie. Man beachte – dies nur nebenbei – das Wort Ball in diesem Wort für eine besondere Konzentration, die explosiv aus sich heraus sprengen kann. Man denke an die geballte Faust, die Aggression in sich birgt, die ausfahren kann, um zu verletzen. Energisch, wie der Frosch seinen Sprung setzt. Annette Webers Frösche aber springen gar nicht, sondern sie hocken, im Grunde kurz vor der Explosion. Energie setzt die Bildhauerin ein, wenn sie ihre Frösche formt. Tonlappen werden um Tonlappen gelegt, mit den Händen, ja mit großen Hölzern geklopft, verdichtet. „Du brauchst einen Ton, der viel aushält“, hat sie mir in ihrem Atelier erzählt, „einen
Bauton.“ Er wird Schicht auf Schicht verlegt, mit Kraft verdichtet, gespannt. Die Bildhauerin überträgt ganz archaisch ihre Kraft auf diese Wesen, die diese in sich aufnehmen und — zusammen ballen —.
Anatomische, doch stark stilisierte Details werden zugefügt, die Schenkel, die aufgesetzten Augen. Die Kugel wird für die breiten Mäuler verletzt, geöffnet. Jeder Frosch erhält seinen besonderen Ausdruck, Bilder für Stimmungen und Situationen,
verdichtet wie jene kleinen Naturgedichte. Und dann brennt die Bildhauerin diese werdenden Geschöpfe mehrfach bei mehr als tausend Grad, legt lasierend, also Schicht auf Schicht Engoben auf, farbige Tone. Schließlich darf ihre Tochter Hannah ran. Hannah arbeitet in die Oberflächen ornamentale Muster ein, akribisch, detailverliebt, konzentriert und fein. Muster, die man seit Menschengedenken kennt, auf alten orientalischen Gefäßen und Fassaden so oder variiert sieht wie auch auf bronzezeitlichen Metallarbeiten, die man in den Relikten der Pfahlbaukultur entdeckt. Diese Archaik des Materials, der Verarbeitung, der Verzierung trifft nun auf moderne Technik in Form der kleinen Filme auf iPhones, die aus manchen Fröschen flimmern. Sprung und Versammlung, Stille und Geräusch – das moderne Medium, das in diesem Fall nicht hochgetrimmt ist, sondern sehr klein und bescheiden entdeckt werden will, reflektiert die Aussage der Frösche: geballte Energie, Spiel und Ernst, Munterkeit und Nachdenklichkeit. Aufgezeichnet und – eine Familienangelegenheit – nach den Ideen der Künstlerin von ihrem Sohn Max geschnitten.

 

Er sieht mich an, der Frosch –
Aber was macht er
für ein Gesicht?

Mit diesem Haiku des japanischen Dichters Issa (geboren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) möchte ich Sie nun einladen, diesen Fröschen, diesen „dicken, herrlichen Geschöpfen“, ins Gesicht und tief in die Augen zu schauen. Lassen Sie sich mitnehmen von ihrer Mimik, ihrer satten Physiognomie, ihrer Archaik und ihrem Tiefsinn. Spüren Sie ihre Energie, die doch die der Künstlerin ist. Lassen Sie Spiel und Ernst gemeinsam wirken, Widersprüche gelten.
Die Natur spiegelt die Seele.
Diese Frösche spiegeln Seelen, wenn Sie, die Betrachter, das wollen und zulassen.
Vielen Dank!

© Dr. Friederike Lutz
Friedrichshafen, im September 2016