Narrenschloss niemand

Katrin Seglitz
Einführung in die Ausstellung von Annette Weber
im Rathaus in Langenargen am 1.Juni 2017


Sich sammeln, Luft holen, Raum geben.
Ich nehme mir das jetzt mal raus, sagte sie.
Annette Weber hat sich rausgenommen aus der Tagespolitik, aus den Katastrophen, die anbranden, sobald man den Fernseher anmacht. Sie hat sich der Landschaft zugewendet, die vor ihrer Haustür liegt, in der und durch die sie sich bewegt, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht und mit sich reißt.
Wie kann man sich dieser Umgebung entziehen? Als Künstlerin?
Will man sich ihr entziehen?
Das Schönste ist doch, sich ihr hinzugeben. Darum kommen die Menschen an den Bodensee, kommen nach Langenargen, um alles abzugeben, was sie bedrückt und bekümmert, um zur Ruhe zu kommen und sich dem Licht zu überlassen, der Luft und dem Wasser, der Sicht auf die Berge.
Und genau das hat Annette Weber sich erlaubt mit dieser Ausstellung, sich rauszunehmen auch aus dem kritischen Anspruch, den sie an die Kunst und an das Leben hat, als eine, die im Dunstkreis der Nach-68er studiert hat in Mainz und in Saarbrücken.
Wir kennen die Zeilen von Brecht:
Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Trotzdem hat Brecht von Bäumen geschrieben – und Annette Weber hat beschlossen, trotzdem den See zu malen. Und die Berge. Und den Himmel. Und das Schloss. Obwohl ein Schloss ja sowas von… kitschig ist. Eigentlich.
Aber da steht es, auf der Landzunge, die in den See hineinragt.
Warum es nicht malen? Weil es auf allen Postkarten zu finden ist? Weil es ein beliebtes Fotomotiv ist für alle, die nach Langenargen kommen? Deshalb einen Bogen drumherum machen?
Nein, Annette Weber hat sich entschlossen, dem Schloss einen Platz auf ihren Bildern zu geben, es zum Bezugspunkt zu machen, zum Ausgangsort und Ziel visueller Ausflüge über den See, in die Berge und über die Berge hinweg in den Himmel.
Auf ihren Bildern wird das Schloss zum Halt in der Haltlosigkeit der Elemente – Licht, Luft und Wasser. Ein märchenhafter Sehnsuchtsort, der materialisierte Wunsch eines monarchistischen Träumers. Ein prägnanter, auffälliger Bau, das Wahrzeichen der Gemeinde Langenargen.
Es gab Vorgängerbauten, die Römer hatten hier zwei Wachtürme hingestellt, die Grafen von Montfort im 14. Jahrhundert die Veste Burg Argen, die während des 30-jährigen Kriegs zerstört und danach wieder aufgebaut wurde. Aus der Burg entstand ein Schloss, aus dem Schloss ein Gefängnis. Es verfiel, wurde zur Ruine. Auf deren Fundament Ende des 19. Jahrhunderts ein Lustschloss gebaut wurde.
Im maurischen Stil.
Lassen Sie mich einen Exkurs machen zum maurischen Stil.
Lassen Sie uns in den Brunnen der Geschichte springen, das scheint mir passend und wichtig für das Verständnis des Werks von Annette Weber, einer Künstlerin, die immer wieder Brunnen entworfen und gebaut hat, einen Luftbrunnen in Essenheim und den Kompassbrunnen in Kressbronn.
Wer sind die Mauren?
Nomadisch lebende Berber aus Nordafrika, die ab dem 7. Jahrhundert von den Arabern islamisiert wurden und bei der Eroberung Spaniens halfen. Sie kamen aus Tunesien, Algerien und Marokko und brachten einen Baustil mit, der als maurisch bezeichnet wird. Eines der schönsten und bekanntesten Beispiele für diesen Baustil ist die Alhambra in Granada.
Im 19. Jahrhundert erwacht in Europa die Faszination an maurischer Kunst und Architektur. In der Stuttgarter Wilhelma wird ein Maurisches Landhaus gebaut und eine Damaszenerhalle – ja, Damaszener sind die Menschen aus Damaskus. König Ludwig der II lässt in Schloss Linderhof einen zauberhaften maurischen Kiosk bauen, und Wilhelm I., König von Baden-Württemberg, baut Schloss Montfort.
Über die Namensgeber, die Familie der Montforts, ist das Schloss verwandtschaftlich verbunden mit Barbarossa, Herzog von Schwaben und Kaiser des deutsch-römischen Reiches. Der Rotbart Barbarossa brach 1189 zu einem Kreuzzug auf ins Heilige Land, mit 15.000 Menschen. Vermutlich waren auch Bewohner aus Langenargen dabei.
Die historischen Schichten, die sich aufblättern lassen, machen Langenargen und Schloss Montfort zu einem weltläufigen Ort, zu einem Zeichen der Befruchtung der Kulturen, zu einem Zeichen der sehr vielfältigen, sehr unterschiedlichen Verbindungen von Orient und Okzident.
Gerade aktualisieren sie sich durch die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind. Gerade wird ein neues Kapitel aufgeschlagen in dieser Geschichte. Und diese Schicht ist Gegenwart für uns. Nach allen Seiten hin offen.
In diese Offenheit hinein arbeitet Annette Weber.
Und auch, wenn sie entschlossen war, sich von den Problembergen abzuwenden und der Landschaft zuzuwenden, sind die Schichten der Geschichte präsent. Man entkommt ihnen nicht, und das will sie ja eigentlich auch gar nicht. Weil es sie immer wieder hineinzieht in den Brunnen der Zeit, eine Goldmarie, die fündig wird, wenn sie sich fallen lässt.
Auch in ihren Arbeiten kann man die Schichten entdecken, frühere Arbeiten, das Motiv des Froschs, mit dem sie in den letzten Jahren viel gearbeitet hat, er taucht, wenn man genau hinschaut, aus der Tiefe einiger der hier ausgestellten Bilder auf und macht eine Zeit sichtbar, die mehrere tausend Jahre alt ist.
Annette Weber ist eine Künstlerin, die schichtet. Die sich in den Brunnen der Zeit fallen lässt und wochenlang abtaucht, wenn sie mit neuen Arbeiten beginnt.
In diesen Phasen lebe ich wie ein Mönch, sagte sie im Gespräch. Ich brauche Zeit und Ruhe, ich muss mich sammeln, um überzeugende Arbeiten machen zu können.
Als sie anfing, mit dem Gedanken zu spielen, sich dem Schloss zuzuwenden, hat sie auch Das Schloss von Kafka gelesen, stellte aber fest, dass es Kafka um etwas ganz anderes ging als ihr. Die Lektüre war trotzdem keine Sackgasse, in der Auseinandersetzung mit den Werken anderer Künstler schärft sich der Blick auf den eigenen Weg.
Als sie beschloss, sich der Landschaft zuzuwenden, begann ein Prozess, der für sie beglückend war. Und ist.
Mit Pastellkreiden und Kohle hat sie zeichnend und malend die Landschaft befragt, in der sie seit 19 Jahren lebt. Sie hat Stunden draußen verbracht, Luft und Licht in sich aufgenommen, den Blick auf den See und die Berge, sie ist Teil der Landschaft geworden und die Landschaft ein Teil von ihr. Und dann hat sie losgelegt, dann haben sich die Eindrücke ihren Weg gebahnt aufs Papier.
Die Bilder, die entstanden sind, zeugen von der Meisterschaft, die ihr über die Jahre und Jahrzehnte künstlerischer Arbeit zugewachsen ist.
Sie hat Bildhauerei und Malerei studiert, sie hat Frauenfiguren gemacht, die an die Venus von Willendorf erinnern und sich doch von dem Urbild lösen. Annette unterlegte sie mit Sätzen von Ingeborg Bachmann, was mich berührt hat als Grenzgängerin zwischen den Künsten, der Literatur, der Kunst und der Philosophie.
Von Februar bis Ende Mai sind die Bilder, die Sie hier sehen, entstanden. Wir sind Zeugen eines Arbeitsprozesses, in dessen Verlauf das Schloss erst einen zentralen Platz einnahm, dann aber in den Hintergrund getreten ist.
Mir gefallen die Bilder, sagte Annette, in denen das Schloss nur noch ein Hauch ist, eine Idee.
In diesem Vorgang – im Auftauchen und Verschwinden – hat sich ihr auch die Frage nach der eigenen Identität gestellt. Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Nicht nur die Landschaftsmalerei hat sich in den letzten zweihundert Jahren befreit vom Zaumzeug akademischer Vorschriften, Zuschreibungen und Definitionen, sondern auch die Menschen in Europa.
Es geht um Freiheit. Und um Selbstbestimmung.
Lassen Sie mich hier einen zweiten Exkurs machen. Diesmal springen wir nicht in den Brunnen, sondern machen eine Himmelfahrt, einen Ausflug in die Landschaftsmalerei.
„Der Himmel ist die Stimmgabel der Natur – für die Farbe, für den Grundton eines Bildes.“
So heißt es in einem kunsthistorischen Buch über Wolken.
Himmel und Wolken waren lange Zeit nur die Folie für das eigentlich Wichtige, für die Darstellung religiöser, mythologischer oder geschichtlicher Ereignisse. Auch wenn Tizian bereits 1544 in einem Brief schreibt: „Als die Menschenmenge mit fröhlichem Applaus ihres Weges gegangen war, wandte ich (…) meine Augen gen Himmel; dieser hatte noch nie seit Gottes Schöpfung ein so schönes Bild von Licht und Schatten gezeigt. (…) im Vordergrund schienen die Häuser, obwohl sie doch aus wirklichem Stein, wie gemalt. Und den Himmel fand ich an einer Stelle klar und lebendig, an anderer trüb und fahl. (…) Oh, mit welch kunstvollen Zügen führte da die Natur ihren Pinsel, malte sie den Himmel und setzte ihn von den Palästen ab…“
So schwärmt Tizian.
Aber erst Ende des 18. Jahrhunderts haben sie ihren Auftritt, dann rücken sie in den Fokus der Aufmerksamkeit der Maler und Malerinnen: der Himmel, die Wolken, das Licht. Ein Kreis französischer Künstler trifft sich um 1800 in Rom.
Sie verlassen die Ateliers, malen draußen, Skizzen entstehen, einer von ihnen, Valenciennes, analysiert als erster systematisch die optischen Phänomene des Himmels: Luft und Licht, Dämpfe und Nebel, Wolken, Regen und Gewitter.
Das Studium des Lichts und der Wolken wird zur wichtigsten Übung der Landschaftsmaler, der Himmel ist l’âme et la vie – die Seele und das Leben eines Landschaftsbildes. Die Wolken sind nicht mehr Sessel und Sofas der Götter. Stattdessen entstehen in der Malerei weite, von Licht erfüllte Landschaften. Die immer wieder von Wolken verschattet werden.
Für John Constable sind die Wolken die Ikonen des Augenblicks, William Turner löst in seinen Bildern die Unterschiede der Elemente auf und lässt sie miteinander verschmelzen.
Das sind die Väter, die Ahnen der Bodenseebilder von Annette Weber.
Sie setzt sich und das Schloss der Natur aus, die nicht nur gnädig ist, sondern auch brutal sein kann, wenn es hagelt, stürmt und schneit, zur falschen Zeit, etwa, wenn alles blüht, so wie in diesem Jahr. In ihren Bildern transportiert sie atmosphärische, aber auch subjektive Stimmungen.
Das Schloss wird zur Chiffre – dazu trägt bei, dass sie es immer aus dem gleichen Blickwinkel malt, links das Land, im oberen Drittel das Schloss, rechts der See, der ins Offene führt – dahinter die Berge.
Genius Loci hat sie das größte Bild genannt.
Nur, wenn ich viel Kraft hatte, sagte sie, bin ich an dieses Bild gegangen.
Und es ist ein kraftvolles Bild geworden. Mit einer Materialisierung von Windstößen und Lichtsetzungen, einem Schauer ins Bild gewehter Striche, die an Blüten erinnern oder an Federn, hell, licht, geglückt das pastos auf die Leinwand aufgetragene Weiß, in das Gelb hineinspielt, Blau und Grün.
Ich habe das festgehalten, sagte sie, was ich in der Landschaft erlebt habe in den vergangenen Monaten – als die Aprikosenbäume geblüht haben, als es dann schneite und der Schnee auf den Blüten lag. Ein Bild heißt Saharasand und zeugt von den Stürmen, die über die Alpen kommen und Sand mitbringen, aus der Sahara.
Beeindruckend auch das Narrenschloss, das entrückt ist, ein Tanz aprikosenfarbener Lichter – vom Grau umschlossen und bedroht. E.T.A. Hoffmann erzählt in einer Geschichte von einem Maler, der ein großes herrliches Gemälde beendet, das für ihn das wiedergewonnene Paradies darstellt. Seine Besucher können allerdings nur eine grau grundierte Leinwand erkennen.
Wie ist das zu verstehen?
Vielleicht als Parabel auf das Umkippen des Paradieses der Fülle in das Paradies einer erwartungsvollen Leere.
Das Montforter Lustschloss, das der Ravensburger Oberamtsbaurat Gottlieb Pfeilsticker für König Wilhelm I. im maurischen Stil errichtet hat, wird bei Annette Weber zum Luftschloss, es wird zu einer Art Schloss, zu einem Art-Schloss, einem Kunstschloss, es ragt ins Bild hinein,
es ist präsent und doch entrückt,
mal nur ein Hauch,
mal überblüht
mal vernebelt,
mal umnachtet,
mal umstürmt.
Da steht es. Ist anwesend und entzieht sich. Es sieht aus wie eine Schatulle, eine Schatzkiste. Der Turm ist der Griff. Den Turm greifend, könnte man die Kiste öffnen. Und was ist drin? Geschichte. Und Geschichten. Von Annette, von ihrem Leben am See, mit ihrem Mann, mit ihren Kindern, mit der Kunst. Geschichten der Menschen in Langenargen. Geschichten von blauem Blut und rotem Blut und Blüten. Aprikosen- und Pfirsichblüten. Und einer Ahnung kommender Ernte, der Hoffnung, dass es auch in diesem Jahr wieder Früchte gibt, trotz Frost – Hände voll – Früchte.
Die Bilder, die hier im Rathaus ausgestellt sind, sind die Früchte der Arbeit von Annette Weber. Ich wünsche Ihnen viel Freude an dieser Ernte, mögen die Bilder Ihre Wahrnehmung schärfen von See und Schloss, von Himmel und Bergen. Und, darauf möchte ich auch hinweisen: es ist möglich, sie zu erwerben.